Juristische Dogmatiken in historischer Perspektive

Forschungsprojekt

Juristische Dogmatik zählt zu den Schlüsselbegriffen der modernen deutschen Jurisprudenz. Der Begriff führt verschiedene Aspekte rechtlichen Wissens zusammen. Er beschreibt gleichzeitig Rationalitätsmodell, Darstellungstechnik, soziale Praxis und wissenschaftliches Feld. Als Rationalitätsmodell meint juristische Dogmatik eine bestimmte Methode und Technik, etwa das Arbeiten mit Prinzipien, Begriffen und Definitionen. Sie rekonstruiert geltende Rechtssätze in streng systematischen Darstellungen oder anderen Ordnungsformen. In ihrer sozialen Praxis verarbeitet sie das Verhältnis von abstrakten Rechtssätzen zu konkreten Rechtsfällen. Schließlich verbindet juristische Dogmatik als wissenschaftliche Disziplin praktische und theoretische Ambitionen.

Das Projekt „Juristische Dogmatiken in historischer Perspektive“ untersucht die Veränderungen innerhalb dieser juristischen Denkform und des von ihr produzierten rechtlichen Wissens anhand wichtiger Rechtswissenschaftler der deutschen Privatrechtsgeschichte. Zu diesen gehören Thibaut, Savigny und Puchta, Jhering und Windscheid, Gierke, Ehrlich und Heck, Larenz und Esser sowie Wiethölter, Canaris und Teubner. Die Untersuchung wird von einer zentralen Hypothese geleitet: Wir können nicht von der juristischen Dogmatik sprechen, sondern nur von juristischen Dogmatiken im Plural. Seit 1800 durchlief die juristische Dogmatik zahlreiche Metamorphosen: Die juristische Interpretation wandte ihren Blick von der historischen Auslegung hin zu den Zwecken von Rechtssätzen. Methodisch verlagerte sie sich von (formalen) Regelanwendungen zu (materiellen) Abwägungen. Ihre Quellen reichten von den Fragmenten des Corpus Iuris Civilis über die Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuches bis zu europäischen Richtlinien und Verordnungen. Als Wissenschaft orientierte sie sich schließlich immer auch an Historiographie, Soziologie oder Ökonomie. Diese historischen Verschiebungen in der rechtsdogmatischen Denk- und Wissensform sollen unter Berücksichtigung der juristischen, wissenschaftlich-universitären und politisch-gesellschaftlichen Kontexte rekonstruiert werden.

Ausgewählte Publikationen:

Seinecke, R.: Modernisierte Kaufrechte. In: 20 Jahre Neues Schuldrecht. Bericht, Bilanz, Bibliographie, S. 173 - 212. Mohr Siebeck, Tübingen (2023)
Seinecke, R.: Vertragsnetzwerke. In: Verfassung ohne Staat. Gunther Teubners Verständnis von Recht und Gesellschaft, S. 131 - 158 (Hg. Viellechner, L.). Nomos, Baden-Baden (2019)
Seinecke, R.: Methodenlehre und Zivilrecht bei Claus-Wilhelm Canaris. In: Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3 Aufl., S. 386 - 423 (Hg. Rückert, J.; Seinecke, R.). Nomos, Baden-Baden (2017)
Seinecke, R.: Rudolf von Jhering anno 1858. Interpretation, Konstruktion und Recht der sog. „Begriffsjurisprudenz“. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 130, S. 238 - 280 (2013)
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