Gesetzloses Recht?

Forschungsbericht (importiert) 2023 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Autoren
Collin, Peter; Ebbertz, Matthias; Vesper, Tim-Niklas; Wolf, Johanna
 
Abteilungen
Abteilung Thomas Duve: Historische Normativitätsregime, Gemeinschaftsprojekt ‚Nichtstaatliches Recht der Wirtschaft. Die normative Ordnung der Arbeitsbeziehungen in der Metallindustrie vom Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik‘
Zusammenfassung
Die Welt der Arbeit ist voller Regeln. Diese werden gemeinhin mit „Arbeitsrecht“ gleichgesetzt, worunter wir heute überwiegend Gesetzesrecht verstehen, das durch staatliche Gerichte ausgelegt wird. In historischer Perspektive wird deutlich, dass sich die normative Ordnung der Arbeit zu einem großen Teil aus nichtstaatlichen Regeln speist. Hierzu zählen der Tarifvertrag ebenso wie eine Vielzahl anderer betrieblicher und überbetrieblicher Regelwerke. Ziel unseres Projekts ist die Erschließung dieser Normen und die Rekonstruktion einer historischen Arbeitsrechtsordnung außerhalb des Gesetzes.

Mit Arbeit verbringen wir einen Großteil unseres Lebens. Sie bindet uns in Rechte-Pflichten-Konstellationen ein, die unseren Tagesrhythmus, unseren Wohlstand und das Ausmaß unserer Unterwerfung unter einen fremden Willen weitgehend bestimmen. Ein Lohnarbeitsverhältnis ist ein Vertragsverhältnis unter formell Gleichen, das unter den Bedingungen struktureller Ungleichheit begründet wird, und es mündet in Subordination. Diese Spannung war schon immer Gegenstand politischer und sozialer Konflikte.

Wir wissen nur wenig über die Geschichte der Normierung der Arbeitsbeziehungen. Die Rechtsgeschichte beschäftigte sich bislang überwiegend mit der Entwicklung des staatlichen Arbeitsrechts. Die Arbeitsverhältnisse wurden jedoch nicht nur durch staatliche Gesetze und Verordnungen bestimmt, sondern auch durch nichtstaatliche Normen. Dazu gehört bis heute der Tarifvertrag. In der Vergangenheit waren auch Arbeitsordnungen, Regelwerke der betrieblichen Sozialpolitik wie etwa Statuten betrieblicher Kranken- und Pensionskassen, Verhaltensvorschriften für Betriebsräte oder Streikreglements der Unternehmerschaft bedeutsam.

Wir wissen von dieser nichtstaatlichen Normenwelt und von ihrer Relevanz für die Ausgestaltung von Arbeitsbeziehungen – aber fast nichts über ihre Inhalte. Das liegt auch an der erschwerten Zugänglichkeit, denn oft finden sich die Quellen verstreut in lokalen und regionalen Archiven.

Normenvielfalt und Normenfülle

Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu: Gesetze haben national einheitliche Geltung, nichtstaatliche Normen nicht. Tarifverträge waren branchenbezogen und wurden oft für einzelne Unternehmen, Orte oder Regionen geschlossen. Arbeitsordnungen galten nur für den jeweiligen Betrieb. Um zu aussagekräftigen Bewertungen zu kommen, ist also eine Vielzahl von Regelwerken zu erschließen. Zur Bewältigung dieser Materialfülle beschränken wir uns auf die deutsche Metallindustrie (einschließlich ihrer Klein- und Handwerksbetriebe) im 19. und 20. Jahrhundert. Wir digitalisieren die erschlossenen Regelwerke, optimieren sie für die computergestützte Verarbeitung und stellen sie im Open Access zur Verfügung. Der Quellenfundus ist die Grundlage der Einzeluntersuchungen im Gesamtprojekt, die neben rechtshistorischen vor allem wirtschafts- und sozialhistorische Fragestellungen verfolgen. Dieser interdisziplinäre Ansatz macht die Relevanz von Recht sichtbar und legt dessen ökonomische und soziale Bedingtheit offen.

Praxis als Recht

Wir wollen einen umfassenden Blick auf das Arbeitsrecht als Ergebnis des Zusammenspiels von staatlichem und nichtstaatlichem Recht ermöglichen. Aus dem laufenden Projekt lassen sich bereits drei Aspekte hervorheben.

Erstens wird die Notwendigkeit deutlich, die Prozesshaftigkeit nichtstaatlicher Normsetzung zu betrachten, um Normativität nicht nur statisch, sondern auch als Praxis zu erfassen. Oft verliefen Normsetzungsprozesse kontrovers. Dies gilt nicht nur für Tarifverträge, sondern auch für Arbeitsordnungen, deren Erlass ursprünglich nur der Bestimmungsmacht der Arbeitgeberseite unterlag. Wurde diese in schwerwiegender Weise gegen die Interessen der Arbeiterschaft ausgeübt, konnte das Widerstand hervorrufen. So streikten 1899 die Arbeiter und Arbeiterinnen sämtlicher Gießereien in und um Leipzig für die Anerkennung des 1. Mai als Feiertag in den Arbeitsordnungen. Aus einer einseitigen Regelungsbefugnis wurde somit de facto eine Verhandlungssache. Doch lässt sich auch beobachten, dass die Unternehmerschaft zuweilen Wert darauf legte, die Ergebnisse von Tarifverhandlungen nicht in Tarifverträgen, sondern in Arbeitsordnungen zu fixieren, um so zumindest der Form nach festzuhalten, dass sie im Betrieb das Sagen hat. Mit der gesetzlichen Einführung von Betriebsräten 1920 wurde die Zustimmung beider Seiten zur Arbeitsordnung erforderlich, was das Ausmaß, in dem sich Regulierungen aus der betrieblichen Praxis heraus entwickelten, verdeutlicht. Zahlreiche inner- und außerbetriebliche Akteure schufen in der Folge Normen auf lokaler Ebene, von Arbeitsordnungen bis hin zu Verfahrensreglements für die interne Betriebsjustiz. Die betrieblichen Aushandlungsprozesse blieben somit trotz des überbetrieblichen Tarifvertragssystems und des sich entwickelnden staatlichen Arbeitsrechts weiterhin wichtig.

Zweitens wird sichtbar, dass nichtstaatliche Normsetzung nicht nur einzelne, dem staatlichen Recht vorgelagerte Freiräume privatautonomer Gestaltungsmacht ausfüllte, sondern ganz eigene „Rechtsgebiete“ schuf. So war das Urlaubsrecht bis in die Weimarer Zeit nicht gesetzlich geregelt: Einen Anspruch auf Erholungsurlaub gab es nicht. Urlaubsrecht entstand erst auf nichtstaatlicher Ebene, denn vor allem in der Weimarer Zeit wurde in Tarifverträgen ein hoch ausdifferenziertes System von Urlaubsregeln entwickelt. Der nichtstaatliche Normsetzer schuf somit eigene Regelungsmuster, ehe sich die staatliche Gesetzgebung dieses Themas annahm.

Drittens zeigen die bisherigen Untersuchungen, dass auch nicht auf die Schaffung formeller Normierung zielende Praktiken Normativität hervorbringen können. Zuweilen verschwimmen hier die Unterschiede zwischen Formalität und Informalität sowie zwischen Willkür, Gewohnheit und Recht. Eine verbreitete Praxis waren beispielsweise Prämienzahlungen anlässlich langjähriger Dienstjubiläen, um Betriebstreue zu belohnen. War die Art der Vergabe dieser Prämien häufig nicht schriftlich fixiert, so waren solche Sondervergütungen durch die regelmäßige Wiederholung der Ausschüttung gleichwohl Ausdruck einer betrieblichen Normativität. Wenn Klärungs- oder Neuregulierungsbedarf bestand, kam es nicht selten vor, dass ursprünglich informell geprägte Normen in schriftliche Grundsätze überführt wurden – zuweilen im Widerstreit zu bisherigen betrieblichen Gewohnheiten.

Die Welt der Arbeit ist also durch staatliche Gesetze wie auch maßgeblich durch nichtstaatliche Normen geprägt. Die historische Perspektive zeigt, dass Arbeitsrecht viel mehr als Gesetzesrecht ist und in weiten Teilen aus über- und innerbetrieblichen Aushandlungsprozessen resultiert.

Literaturhinweise

Collin, P.
Privat-staatliche Regelungsstrukturen im frühen Industrie- und Sozialstaat. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016
https://hdl.handle.net/11858/00-001M-0000-002B-0C3E-2
Wiede, W., Wolf, J., & Fattmann, R. (Eds.)
Gender Pay Gap: Vom Wert und Unwert von Arbeit. Bonn: Dietz-Verlag 2023
https://hdl.handle.net/21.11116/0000-000D-FC24-F
Wolf, J.; Ebbertz, M.; Spendrin B.; Vesper, T.-N.
Neue Ansätze in der Arbeitsrechtsgeschichte. Ein digitales Quelleneditionsprojekt am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie. Rechtsgeschichte - Legal History Rg, 30, 199-213 (2022)
http://dx.doi.org/10.12946/rg30/199-213
Wolf, J., Ebbertz, M., Vesper, T.-N. 
Challenges of a Digital Source Edition Project during a Pandemic. Legal History Insights. 2022
https://doi.org/10.17176/20220721-153218-0
Ebbertz, M.
Arbeitsordnung und Strafbestimmungen – Betriebliche Normenproduktion nach dem Betriebsrätegesetz 1920
Arbeit und Recht 2024 (3), G5-G8 (2024)
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