„Recht als Wissenschaft“

Ein Gespräch mit Prof. Jan Schröder

26. September 2023

„Recht als Wissenschaft“ ist das Thema einer Tagung am mpilhlt, die dem gleichnamigen, zweibändigen Werk von Jan Schröder gewidmet ist. Vor der Veranstaltung sprachen wir mit dem Autor der Geschichte der juristischen Methodenlehre vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts über den Begriff von „Wissenschaft“, die kopernikanische Wende im Recht und den Zustand des „Rechts als Wissenschaft“ im deutschsprachigen Raum.

Herr Schröder, was sind Ihrer Ansicht nach die Voraussetzungen, damit Recht zur Wissenschaft wird? Oder anders gefragt, was ist Recht, wenn es keine Wissenschaft ist?

Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, weil es in der Geschichte und in der Gegenwart unterschiedliche Wissenschaftsbegriffe gibt. Hält man sich einmal an die Klassiker, dann setzt Wissenschaft mindestens eine systematische Erfassung des Gegenstandes (Kant) und, wenn man mehr verlangt, ein Wissen aus Gründen (Aristoteles) voraus.

Was die Rechtsdogmatik angeht, so meine ich, daß sie seit dem 16. Jahrhundert die Kantschen Minimalanforderungen erfüllt. Durchweg werden systematische, wenn auch im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Darstellungen auf der Grundlage eigener, und nicht nur den Rechtsstoff wiederholender, Begriffe entworfen. Schwieriger ist es mit den aristotelischen “Gründen”. Die Tatsache, daß irgendetwas im Gesetz steht, kann ja als wissenschaftliche Begründung nicht ausreichen. Darüber hinausreichende “Gründe” von Rechtssätzen findet man aber im Naturrecht und in der historischen Rechtsschule. Begründungen für dogmatische Einsichten liefert natürlich auch die kunstgerechte Interpretation der Rechtsquellen.

Was die Rechtstheorie betrifft (insbesondere Argumentations- und Interpretationstheorie), so genügt auch sie wohl in allen Zeiten dem Systemerfordernis. Begründungsversuche finden sich vor allem in der historischen Rechtsschule und parallel in der allgemeinen, “romantischen” Hermeneutik. Auch für die Begriffe des Gesetzes und des Gewohnheitsrechts lassen sich Begründungen finden, seit dem 19. Jahrhundert vor allem verfassungsrechtliche.

Als Recht, das keine Wissenschaft, d.h. nicht wissenschaftlich behandelt worden ist, würde ich zum Beispiel die Volksrechte des frühen und die Rechtsspiegel des hohen Mittelalters bezeichnen. Insoweit sprechen denn auch die Rechtshistoriker von “ungelehrtem” Recht. Allerdings setzt seit dem 13./14. Jahrhundert eine wissenschaftliche Bearbeitung auch dieser Rechte ein.

Ihr Werk bietet eine Geschichte der juristischen Methodenlehre vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Was waren für Sie die entscheidenden Umbrüche? Gab es in den Rechtswissenschaften so etwas wie eine ‚kopernikanische Wende‘?

Die wichtigsten Umbrüche ergeben sich nach meiner Meinung aus Veränderungen des Rechtsbegriffs im mittleren 17. Jahrhundert, im frühen 19. Jahrhundert, zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in den deutschen Diktaturen. Dementsprechend habe ich das Werk auch eingeteilt.

 Radikale Wandlungen des Rechtsdenkens bringt der Übergang von der “bürgerlichen” Rechtstheorie zu den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts mit sich. Aber diese Umbrüche waren glücklicherweise nur von kurzer Dauer, und haben keine allgemein akzeptierten neuen Einsichten hervorgebracht. Eher könnte man schon den neuen Rechtsbegriff des mittleren 17. Jahrhunderts als “kopernikanische Wende” bezeichnen (schlagwortartig bei Thomas Hobbes: “sed authoritas, non veritas, facit legem”). Er eliminiert nach und nach Gott aus dem Recht und gibt dem menschlichen Gesetzgeber und seinem (historischen) Willen eine zentrale Stellung. Das prägt dann auch die juristische Methodenlehre, manchmal bis in einzelne Details hinein. Natürlich ist diese Entwicklung der Rechtstheorie nur ein kleiner Ausschnitt aus dem großen Umbruch des wissenschaftlichen Denkens im 17. Jahrhundert, dem wir unter anderem eine rationale, auf Erfahrung gestützte neue Naturwissenschaft verdanken.  
 
Wie würden Sie den Zustand des „Rechts als Wissenschaft“ im deutschsprachigen Raum heute beurteilen, etwa angesichts einer zunehmenden Internationalisierung der Wissenschaften und verschwimmender disziplinärer Grenzen?

Es leuchtet ein, daß jedenfalls die Europäisierung des Rechts unsere Rechtstheorie in Kontakt mit Rechtsordnungen bringt, in denen manchmal erheblich abweichende methodologische Vorstellungen existieren. Das wird sicherlich die Fortsetzung der spezifisch deutschen Tradition abschwächen und beeinflußt sie wohl auch schon seit längerem.

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