CfP zur Tagung „Recht im Anthropozän“

Call for Papers

25. Mai 2022

Der Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen schlug vor ca. 20 Jahren vor, mit dem Anthropozän die Ablösung der geochronologischen Epoche des Holozäns zu kennzeichnen, da menschliches Handeln zum wichtigsten Einflussfaktor auf geophysikalische Prozesse geworden sei. Angesichts der gravierenden Folgen dieses menschlichen Handels, die sich u.a. in der Klimakrise, dem Artensterben, dem Ressour- cenverbrauch, der Verschmutzung von Wasser, Luft und Erde sowie der radikalen Transformation vieler Ökosysteme und ökologischer Gleichgewichte manifestieren, wurde die Anthropozän-Diagnose rasch auch jenseits der Naturwissenschaften aufgegriffen. Das Anthropozän ist zu einem Begriff geworden, der u. a. in den Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaften, Kulturwissenschaften, in Anthropologie, Philosophie, Ökonomie und Politikwissenschaft, aber gerade auch in der Soziologie und Rechtswissenschaft teils kontroverse Debatten auslöst.

So sehr dabei die Verwendungsweisen des Begriffs in den verschiedenen Disziplinen und Ansätzen divergieren, ist ihnen doch eins gemein: Mit dem Anthropozän geht es ums Ganze. In Frage steht die Art und Weise des (gesellschaftlichen) Zusammenlebens, das Verhältnis menschlichen Lebens zu natürlichen Entitäten, die Wirtschaftsweise und damit schließlich das Überleben des Menschen als Gattung auf dem Planeten Erde. Problematisiert wird das Anthropozän in diesem Sinne als eine radikale Krise der Menschheit – bis hin zur Frage nach einem Bruch mit den bis dato relativ stabilen Bedingungen für die Zivilisationen des Holozäns. In der Soziologie – wie auch in anderen Disziplinen – sind Grundbegriffe wie Subjekt, Agency, Materialität bis hin zu Kollektivität und Gesellschaft herausgefordert. Fundamen- talkritiken stellen Grundfeste der Disziplin infrage.

In den Rechtswissenschaften wird das Anthropozän bislang vor allem als eine umfassende globale öko- logische Krise verstanden. Die Diagnose verbindet sich mit einer Reihe konkreter rechtlicher Auseinan- dersetzungen wie etwa um die Regulierung von CO2-Reduktionen oder des Geoengineerings, die Verhandlung von Klimaklagen, die Normierung des Ökozids, sowie die Frage der Rechte der Natur und tierlicher Rechtspersonen. Das Anthropozän bietet damit den Rahmen für die weitreichenden Herausforderungen des Rechts angesichts von Klimaerwärmung, Artensterben, Versauerung der Meere etc. Die Rolle des Rechts wird dabei entweder affirmativ, als Auftrag für die Ausgestaltung der menschlichen Formkraft der Umwelt, oder restriktiv – und oft in Ablehnung des Anthropozänkonzepts – im

Schutz vor den Auswirkungen menschlicher Naturzerstörung gedeutet. Das Recht wird so, bei aller Kritik, als potentielles Instrument zur Lösung ökologischer Krisenphänomene begriffen.

Unser Workshop „Recht im Anthropozän“ konstatiert demgegenüber, dass sich das Verhältnis von Recht und Anthropozän ungleich komplexer und vielschichtiger gestaltet, als es die affirmativen und restriktiven rechtlichen Deutungen des Anthropozäns als ökologische Krise glauben machen: Das

„Anthropozän“ ist in erster Linie ein Spannungsbegriff, d. h. ein kritischer Marker einer als existentielle Krise adressierten Situation, in der eine Vielzahl von Konfliktlagen, Fragestellungen und disziplinären Perspektiven gebündelt wird. Zunächst konfrontiert das Anthropozän das Recht mit dem human factor und der existentiellen Notlage für das (menschliche) Leben auf dem Planeten Erde. Es geht aber auch über eine reine ökologische Problemdiagnose hinaus, die mit den Mitteln des Rechts einzuhegen wäre. Denn das Anthropozän stellt zugleich in Frage, wie das Recht in der Ausgestaltung gesellschaftlicher und natürlicher Verhältnisse beteiligt ist und sein kann. Der Begriff markiert mithin nicht nur eine exis- tentielle ökologische Herausforderung, sondern verändert und problematisiert zugleich auch das Recht selbst und seine Grundvoraussetzungen – und zwar in theoretischer wie empirischer Hinsicht.

Das „Recht im Anthropozän“ soll vor diesem Hintergrund auf der Tagung unter drei Gesichtspunkten erörtert werden:

  1. „Anthropozän im Recht“

Das (moderne) Recht, so die Ausgangsthese, ist nicht in erster Linie als Instrument zur Lösung der ökologischen Krisen des Anthropozäns, sondern zunächst einmal selbst als Bestandteil der gesellschaftli- chen Strukturen zu begreifen, die das Anthropozän hervorgebracht haben. Es gilt also zum einen, die Rolle des (modernen) Rechts in der Hervorbringung der Anthropozänkonstellation in den Blick zu neh- men. Das Recht hat die Realität des Anthropozäns und seine Mensch-Naturverhältnisse, Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens, Ausbeutungsverhältnisse und Weisen des Zugriffs auf Natürli- ches (mit) ausgestaltet. Zum anderen wäre zu fragen, wie das Recht in concreto das Anthropozän problematisiert: Welche Aspekte des Anthropozäns werden mittels des Rechts im Kampf ums Recht jeweils adressiert – und welche nicht? Wie formt das Recht das Anthropozän?

Wir suchen nach Beiträgen, die sich (kritisch) mit der Rolle des Rechts bei der Hervorbringung des Anthropozän beschäftigen.

  1. „Recht im Anthropozän“

Darauf aufbauend wollen wir erörtern, welche Folgen die Diagnose des Anthropozäns für das Recht hat. Denn – so die Arbeitsthese – das Recht erfährt im Anthropozän und durch die damit einhergehen- den Krisen selbst tiefgreifende Veränderungsprozesse. Diese manifestieren sich u.a. in aktuellen Aus- einandersetzungen um die Verschiebungen des subjektivrechtlichen Fokus des Rechts sowie dessen anthropozentrische Ausgestaltung, in aktuellen Diskursen um eine Reform von Eigentumsverhältnissen, den Umgang mit externen Effekten sowie dem zunehmenden strategischen Einsatz unterschied- licher Klagemöglichkeiten.

Wir suchen nach Beiträgen, die sich diesen Themen aus theoretischer oder empirischer Sicht, etwa anhand von konkreten Fallstudien nähern.

  1. „Recht für das Anthropozän“

Schließlich wollen wir in Augenschein nehmen, wie mit dem Recht im Anthropozän unweigerlich die normativ-strategische Ebene aufgerufen wird: Es geht hier darum, welches Recht in concreto ange- sichts oder eben „für“ das Anthropozän das richtige sei. Diese Suche nach normativen Antworten im, mittels und durch das Recht lässt sich einerseits im theoretischen rechtswissenschaftlichen Diskurs zum Anthropozän identifizieren, andererseits aber auch auf empirischer Ebene in den konkreten Kämpfen um Recht angesichts des Anthropozäns feststellen: Initiativen wie die Pachamama Alliance oder German Watch treten mit ihrer Arbeit explizit für normative Ziele ein. Damit rücken Fragen nach der gesellschaftlichen Rolle, der Funktion und den Machteffekten des Rechts in den Vordergrund, auf denen strategische Überlegungen im Kampf um das Recht beruhen. Darüber hinaus wäre nach den Legitimationseffekten zu fragen, die z. B. aus dem Rekurs auf „die Natur“, die „zukünftige Generation“ oder den Tatbestand des „Ökozids“ hervorgehen (sollen).

Willkommen sind Beiträge, die den Blick auf diese strategische Ebene der Normativität richten: Wie, warum und mit welchen Effekten wird auf die durch die Anthropozän-Diagnose angesprochenen es- sentiellen Problemlagen gerade mit, durch und mittels Recht geantwortet?

Die Arbeitsgruppe Recht im Anthropozän (RiA) hat sich gegründet, um diese Aspekte des Anthropozäns als Spannungsbegriffs interdisziplinär und empirische wie theoretisch zu erforschen. Ihr gehören Laura Affolter (Hamburg), Philipp Degens (Hamburg), Andreas Gutmann (Bremen), Johan Horst (Frankfurt), Susanne Krasmann (Hamburg), Thomas Scheffer (Frankfurt), Doris Schweitzer (Frankfurt) an.

Wir freuen uns über innovative und interdisziplinäre, theoretische und empirische Beiträge zu diesen drei Aspekten des Rechts des/im/für das Anthropozän. Bitte senden Sie einschlägige Abstracts (ca. 500 Wörter) für Vorträge bis zum 30. Juni 2022 zusammen mit einen CV an Johan Horst (horst@lhlt.mpg.de) und Doris Schweitzer (do.schweitzer@soz.uni-frankfurt).

 

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